Zwillingsspiel Kriminalroman by Markus Stromiedel

Zwillingsspiel  Kriminalroman by Markus Stromiedel

Autor:Markus Stromiedel [Stromiedel, Markus]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426555019
Herausgeber: Knaur e-books
veröffentlicht: 2015-10-25T16:00:00+00:00


51

Selig stand am Waschtisch und versuchte, den Fremden zu fokussieren, der auf der anderen Seite des Spiegelglases stand und ihn ansah. Er wusste, er sollte die Gestalt erkennen, sie war sein Abbild, so wie die anderen ihn sahen. Doch es gelang ihm beim besten Willen nicht, den graugesichtigen, blutig vernarbten Mann, der mit verquollenen Augen dort vor dem Waschbecken stand und ihn anglotzte, als Bildnis seiner selbst zu akzeptieren.

Der Schmerz suchte mit Macht den Weg zurück in sein Bewusstsein. Sein Blick kippte, er schloss die Augen, auf den Griff seiner Hände konzentriert, die sich wie zwei fremde Wesen an den Rand des Waschbeckens geklammert hatten und ihm halfen, die erneut über ihn hereinstürzende Brandungswelle aus Schmerzen auszuhalten. Nach einer Weile ebbte der Schmerz ab und zog sich ein wenig zurück, um Kraft zu sammeln für einen weiteren Anlauf. Selig wusste intuitiv, die nächste Welle würde ungleich heftiger werden, bis sein geschundener Körper seinen Willen bezwungen hätte und er im Meer seiner Schmerzen ertrinken würde.

In der gleichen Sekunde packte ihn jemand, Selig wurde herumgeschleudert, er taumelte zur Seite und prallte an die gekachelte Wand. Ein Knie rammte sich in seinen Rücken und presste seinen Körper an die Fliesen, während gleichzeitig eine Hand sich in sein Haar krallte und seinen Kopf mit voller Wucht an die Wand donnerte. Der Schmerz des Aufpralls ging nahtlos über in die nächste Schmerzwelle, die früher als erwartet über ihm zusammenbrach.

Als Selig wieder denken konnte, hörte er dicht an seinem Ohr ein leises schneidendes Atmen. Der Griff in seinem Haar war unvermindert fest, und noch immer hielten ihn die Hand und das Knie des unbekannten Angreifers flach an die Wand gepresst. Langsam öffnete Selig die Augen. Direkt vor seiner rechten Pupille waren die grauen Fugen zweier Fliesen zu sehen, ein verschwommenes Linienmuster, das Selig nicht begriff. Eine Stimme drängte sich in sein Bewusstsein, sie flüsterte etwas. Selig versuchte, sich auf die Worte an seinem Ohr zu konzentrieren, doch es gelang ihm nicht, ihre Bedeutung zu erfassen. Eine Warnung, sicher, aber was wollte der Fremde ihm sagen? Selig schloss die Augen, lenkte seine verbliebene Kraft auf das Hören.

»… keinen Sinn … mir nicht zu nahe … gemeinsam untergehen …«

Die bruchstückhaften Worte, deren Sinn Selig nur langsam verstand, verschwammen zu einem Gefühl, das er als Furcht erkannte und das ihn wie in Zeitlupe auszufüllen begann. Gleichzeitig – und die Parallelität irritierte ihn – fingen die Rezeptoren seiner Nase einen bittersüßen Geruch auf, der in ihm das Bild eines verschmorten Bratapfels aufsteigen ließ.

Was macht ein Bratapfel hier im Waschraum der Polizeidirektion?

Die Hand, die ihn an die Wand gepresst hatte, lockerte plötzlich ihren Griff, Schritte waren zu hören, dann eine Tür.

Selig sackte zu Boden. Sein Schädel schlug auf den harten Fliesen auf, und der Schmerz des Aufpralls verband sich mit einer neuen Brandungswelle, die über ihn hereinbrach, stärker als je zuvor, und die alles überdeckte.



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